Wildnis Camp in Schweden: Gamla Svenski, mir fehlen die Worte!

27/10/21 | ExPEERience, Forschung, Reportagen | 2 Kommentare

 

Ruhig und beständig, tiefgründig und still, fließt das Wasser des Kyrksjön und schiebt Seerosenblätter langsam flussabwärts. Mein Handy zeigt 19.30 Uhr an. Die Sonne steht immer noch hoch, vom Untergang fehlt jede Spur. Ich spüre den Frieden hier an diesem Ufer im schwedischen Värmland, an einem warmen Tag im Juli. Ich spüre die Ruhe hier zwischen den Blaubeersträuchern und habe das Bedürfnis, das Telefon abzuschalten und es für die restlichen Tage, die noch bevorstehen, einfach im Rucksack liegen zu lassen. Im Grunde hätte ich es auch einfach zuhause lassen können. Wie soviel anderes, von dem wir glauben, es zu brauchen. Und hier im schwedischen Wald feststellen, dass es keinen Wert hat, zu viel Raum nimmt und unnötiger Ballast ist, den man in einem Wildnis-Camp mit sich herumträgt. Vielleicht aber auch darüber hinaus. Im Alltag, im Leben.

 

 

Reduzieren ist eines der ersten Schlagworte, die bei der Planung zu diesem pädagogischen Camp vor vielen Wochen fallen. Reduzieren ist das, was alle TeilnehmerInnen jetzt wirklich begreifen. Im Fluss stehen Gabriel, Tobias, Florian und Simon und waschen sich mit einem Stück Seife die Haare. Irgendjemand hat es ihnen geliehen, es braucht nicht jeder ein eigenes – das ist nur zusätzliche Last, wenn man etwas hat, das man teilen kann. An zwei Bäumen nah am Wasser liegen Rucksäcke, Planen, ein paar Seile und wasserdichte Packsäcke, die mit Schlafsäcken gefüllt sind. Am Ufer des Kyrsksjön, nur wenige Meter von der Gruppe entfernt, schaukeln die Kanus. Grüne, weiße, ein selbstgebautes aus Holz. Dieser Platz hier zwischen Blaubeersträuchern, Wald und freien Sitzflächen wird der nächste Schlafplatz. Unter freiem Himmel, mitten in der Natur. Ohne Verbindung zur Außenwelt, ohne Straßen, Cafés, Bars. Ohne Netflix, ohne Dusche. Nur 10 Jugendliche, 3 Leiter, ein Kanu-Guide und das Feuer, auf dem in der großen Pfanne die ersten Bantus backen.

 

 

 

 

 

 

 

Es ist eines von zahlreichen Camps, das in diesem Corona-Sommer im Rahmen des Expeerience-Projektes stattfindet. Die Vorbereitungen dafür liefen Monate, vieles musste umdisponiert werden. Zugtickets, Test-Möglichkeiten für Durch- und Anreise, Teilnehmerzahl, weil seit diesem Jahr immer wieder Absagen in letzter Minute kommen. Projektleiterin Ulli kommt bei der Planung irgendwann an ein Limit. Sie sagt, sie weiß nicht, was los ist, aber es scheint, viele Jugendlichen haben in der Pandemie Ängste entwickelt und legen sich nicht mehr fest. Doch Corona und Expeerience – das soll Stoff für einen anderen Artikel sein. Irgendwann dann steht sie endlich, die Planung. Die Tickets sind gekauft, die Ausrüstung bei allen Jugendlichen kontrolliert, einiges bleibt zurück und 15 Menschen machen sich auf die lange Reise von Bozen nach Torsby. Mit dem Zug.

Dass sich die Gruppe nicht bequem in ein Flugzeug setzt, ist Teil des Wildnis-Formats:
Nachhaltig reisen, um die Umwelt weniger zu belasten.
Lange Reisen, um den Weg zu ebnen für sich selbst, im schwedischen Wald anzukommen.
Den Blick nach draußen schweifen lassen, um Veränderungen im Außen wahrzunehmen und sich einzulassen, auf das was kommt. Einen Weg gehen, Schritt für Schritt. So wie es auch der Plan in Schweden ist.

Für die Vorbereitung auf das Wildnis-Camp hatten die angehenden LeiterInnen eine klare Aufgabenstellung: „Mach einen Schwellengang und überlege dir, welche Fragen dich zurzeit umtreiben, was dich nach Schweden zieht, woran du wachsen, was du zurücklassen willst!“

 

Klare Ansage, schwierige Umsetzung. Der sogenannte Schwellengang ist eine Natur-Übung, die abseits von Menschen in der Natur ausgeübt werden kann, indem man sich auf das konzentriert, was man hört, sieht, fühlt und wahrnimmt. In der Zeit des etwa dreistündigen Spaziergangs oder Sitzenbleibens an einem Ort, soll nur Wasser getrunken werden. Die Schwelle, gebaut aus Stöcken, Steinen, Moos und allem, was die Natur hergibt, dient als Schwelle zu einem anderen Raum, einer anderen Ebene, auf die man sich einlassen und hinein spüren darf. In der Beschreibung stehen Absätze wie: „Du überschreitest diese Grenze, in dem Bewusst sein, dass dahinter eine andere als die gewohnte Welt beginnt – eine Welt, in der Landschaft, Ereignisse und Begegnungen symbolische Bedeutung haben. Ein toter Baum der Dir begegnet, kann Dich an die Kletterfreuden Deiner Kindheit erinnern, oder aber auch an den Tod eines Dir nahestehenden Menschen. Vielleicht bedeutet er Dir auch nichts.“ Oder: „Beim Überschreiten der Schwelle stellst Du Dir die Frage: Wofür bin ich gerade offen? Wer oder was will mir begegnen, in mein Leben treten?“ Jede*r soll aus seinem „Unbewussten heraus wirken“ und sich frei fühlen. Am Ende soll nach der Übung ein Symbol, ein Naturmaterial mit in den schwedischen Wald gebracht werden, das für einen und seine inneren Themen steht. Es klingt etwas Hippie dippy, etwas schmalzig und ich bin anfangs skeptisch, wie sich xx Jugendliche im Alter von 15 bis 17 darauf einlassen werden.

 

Es ist der dritte Abend in diesem Camp. Und der zweite Abendkreis. Jeden Morgen, jeden Abend kommen alle zusammen, sitzen um ein Symbol, das in der Mitte liegt und besprechen den Tag, die Planung für den kommenden, verteilen Aufgaben, geben Feedback für die Tagesteams. In diesem Camp liegt in der Mitte ein Elchgeweih, in dem heute eine Feder und etwas gefundenes Elchkot sowie ein brennendes Räucherstäbchen liegen. Die Gruppe wird ruhiger, viele schauen auf den aufsteigenden Rauch als einer der Leiter beginnt eine Geschichte zu erzählen, die auf den Sinn der Schwellengänge hinweist. Die zwei Stunden, die nun folgen, sind intensiv, lang, tiefsinnig und teilweise schlauchend. Jede*r TeilnehmerIn erzählt von ihren Erfahrungen des Schwellenganges, der zuvor zuhause gemacht wurde. Es wird über die Herangehensweise gesprochen, über die Beobachtungen, die man gemacht hat. Es wird gesprochen über die Gefühle, die hochgekommen sind, über Ängste, Freude, Kummer. Darüber, welche Themen gerade beschäftigen, darüber was man vielleicht damit anfangen kann. Im Anschluss an jeden Erfahrungsbericht „spiegeln“ die Leiter die Geschichte. Es wird aufgegriffen, was gehört wurde und interpretiert, was es zu bedeuten hat.

 

 

Die Themen der Jugendlichen handeln von Ängsten vor der Zukunft, von Dankbarkeit über das, was man hat, von Traurigkeiten über das, was man verloren hat. Alle Geschichten sind ehrlich, emotional und tief. Vertrauen hat sich nach drei Tagen eingenistet. Auch wenn sich nicht alle vorher persönlich kannten. Die Spiegelungen scheinen den Jugendlichen einen Rahmen zu geben, ihnen Mut zu machen. Doch scheinen manche Interpretationen sehr subjektiv. Ich frage mich: Öffnen sie vielleicht emotional Themen bei den Jugendlichen, die nicht weiter aufgefangen werden? Wie gehen die Jugendlichen nach diesen Schwellengang-Interpretationen mit ihren Themen, ihren Ängsten, ihren Sorgen um? Fühlen sie sich aufgehoben und bestärkt in Zuversicht und Mut? Fühlen sie sich alleingelassen? Es sind Fragen, die mich begleitet und in diesem Camp erstmal nicht aufgelöst werden.

Denn auch über das Teilen der Schwellengang-Erfahrung hinaus, machen die angehenden LeiterInnen naturpädagogische Übungen, die sehr intensiv sind und eine Menge abverlangen. Teilen von Gedanken und Gefühlen. Sich auseinandersetzen mit den eigenen Ängsten. Aber auch: wachsen. In sich selbst, nach außen.

Denn eine Beobachtung ist nach einer Woche deutlich zu erkennen: Die Jugendlichen haben sich verändert. Sie sind gewachsen an den Anforderungen. Sie trauen sich mehr zu. Sie schauen nicht nur auf sich und den Nachbarn, sie schauen auf die ganze Gruppe. Der Wunsch einer Gesellschaft, wieder mehr zum Kollektiv statt Individualismus zu gehen, ist hier im schwedischen Wald Realität geworden. Jeder schaut auf den anderen, es wird mitgedacht für alle. Eine Gemeinschaft, ein Bündnis ist entstanden. Eins, das vieles aus der persönlichen Gefühlswelt miteinander teilt. Das ist besonders. Aber hält das an?

 

 

 

 

 

 

Die schwedische Reise neigt sich dem Ende zu. Zwei Durchläufe an Tagesplanungsteam hat jeder der Jugendlichen durchlaufen. Zuständig für Reise, fürs Essen, für das Suchen des Schlafplatzes. Sie haben viel mitgenommen, viele Erfahrungen gesammelt. Und nach solch einer intensiven Zeit ist es richtig, erstmal einen Abschluss zu finden, um in die Reflexion zu gehen.

 

 

 

 

 

 

In mir hat vieles gearbeitet, auch noch Wochen danach. Ich frage mich: Wie geht es den anderen? Was hat Schweden, die Reise, die Reise zu sich selbst, mit ihnen gemacht? Fühlen sie sich gestärkt? Oder plötzlich allein gelassen? Ist es gut, emotional in Jugendlichen so viel zu öffnen? Fragen, die mich nicht loslassen. Und definitiv Fragen, denen ich auf den Grund gehen möchte. Die Antworten werde ich mit euch teilen. Denn das, da bin ich mir sicher, ist Stoff für einen eigenen Blog-Artikel.

 

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