Hannes Waldner, 36 Jahre jung, ist ausgebildeter Wildnispädagoge und seit 18 Jahren in der Jugendarbeit tätig. Mal ehrenamtlich, mal freiberuflich, aktuell in leitender Position im Jugenddienst Meran. Kurse, Workshops und Camps gibt er sowohl für Erwachsene als auch Jugendliche und Kinder. Hannes sieht sich selbst als Mensch, der unterschiedliche Interessen und Welten hat: Vor langer Zeit hat er mal Informatik studiert, ist sehr naturverbunden und liebt die digitale Welt. Etwas, das alles miteinander verbindet, findet er, ist das Spiel.
Im September habe ich ihn in Meran zum Interview getroffen. Mit ihm wollte ich sprechen über die Wildnispädagogik, die Herausforderungen und den Nutzen, die sie für die Gesellschaft hat.
Hannes, was ist Wildnispädagogik und warum hat sie eine Relevanz für den Menschen?
Die Wildnispädagogik weiß selbst nicht so genau, was sie ist. Im Grunde ist sie erstmal eine Unterkategorie der klassischen Erlebnispädagogik. Darunter fällt alles, was mit Action zu tun hat, klettern, Hochseilgärten, Abenteuer. In der Erlebnispädagogik gibt es zudem drei Strömungen, die Bedeutung haben: Natur-, Wald, und Wildnispädagogik. Bei der Naturpädagogik geht es darum, Wissen über Natur herzustellen. Konkret: Man geht mit der Gruppe auf einen Bauernhof, in einen Kräutergarten, auf eine Wiese und vermittelt Wissen. Welche Tiere gibt es hier? Welche Kräuter haben Heilwirkungen? Wie funktioniert Photosynthese? Die Waldpädagogik, die oft von Förstern geleitet wird, versucht hingegen den Wald erfahrbar zu machen, sich also ganz darauf zu konzentrieren.
Und wie sieht es bei der Wildnispädagogik aus?
Diese Strömung versucht die Verbindung zwischen Mensch und Natur erfahrbar und erlebbar zu machen. Unterschwellig kommt auch eine spirituelle Ebene hinein, da sie aus dem amerikanisch-indianischen und dem Schamanismus geprägt worden ist. Aber das steht nicht unbedingt im Vordergrund, sondern vielmehr: Ich bin Teil der Natur und das macht etwas mit mir. Dadurch wird der Unterschied zur Naturpädagogik spürbar. In der Wildnispädagogik geht es nicht nur um die Natur. Es geht auch um mich als Mensch in der Natur. Ich lerne mich also wieder spüren und die eigenen Grenzen, Vorlieben und Stärken kennen. Die Wildnispädagogik sucht – anders als die klassische Erlebnispädagogik – auch nicht das Extreme, wo es vordergründig um Grenzgänge und Ausbrechen aus der Komfortzone geht.
Was sucht sie dann?
Sie geht eher einen sanfteren Weg und das ist Herausforderung genug. Für viele Menschen ist eine Nacht im Freien zu verbringen schon eine große Herausforderung, weil sie es noch nie gemacht haben. Oder das erste Mal ein Zündholz anzuzünden und damit ein Lagerfeuer zu entfachen. Das ist für viele stärkend und erleuchtend, weil sie sehen: Ich kann das. Das ist nichts Extremes, aber außerhalb des Normalen.
Wo steht die Wildnispädagogik gesellschaftlich zurzeit?
Die klassische Erlebnispädagogik ist in der Bevölkerung nach wie vor sichtbarer und wird mit all ihren Abenteuererfahrungen auch nach wie vor mehr genutzt. Das ist die actionreiche Variante, die auch in den Medien oft dargestellt wird. Zum Beispiel durch digitale Spiele, die das Survival-Thema übernehmen und eine große Anziehung auf Menschen haben. Auch Corona hat seinen Teil dazu beitragen. Auf der anderen Seite gibt es auch einen großen Hype in Hinblick auf Wellness und Gesundheit. Mit Kräuterkunde oder Waldbaden zum Beispiel. Das hat sich in den letzten zehn Jahren sehr stark entwickelt, besonders unter Frauen.
Also ist die Wildnispädagogik eher eine Randerscheinung?
Vielen ist sie kein Begriff, das stimmt. Das Verbindende zur Natur und das „sich-mit-sich-selbst-beschäftigen“ ist relativ unbekannt und lässt sich vielleicht auch schlecht vermarkten. In Südtirol zumindest. In Deutschland und Österreich sieht es etwas anders aus. Eine Tendenz, die mir gar nicht gefällt, aber zu beobachten ist, sind die vielen Waldkindergärten, die momentan aus dem Boden sprießen. Sie nutzen die Wildnispädagogik als Plattform. Sie haben aber meines Erachtens nichts damit zu, sondern sind Spielplatz für Impfgegner. Die Thematik wird von Coronaleugnern total vereinnahmt. Das finde ich katastrophal, weil das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Jeder darf natürlich frei entscheiden, ob er sich impfen lassen will, aber der Bereich darf nicht davon eingenommen werden.
Ist ein Wildnis-Camp mehr als eine bloße Freizeitbeschäftigung bzw. kann es mehr sein?
Ja ganz sicher, denn man entwickelt in dieser Zeit Kompetenzen und Fähigkeiten, die man sonst nicht lernen würde. Eine Plane zu spannen, für eine große Gruppe über dem Feuer zu kochen, unter freiem Himmel zu schlafen zum Beispiel. Das macht etwas mit einem, man gewinnt an Selbstwert und Vertrauen in sich selbst. Auch Grenzerfahrungen sind dabei wichtig, nur werden die nicht nur alleine, sondern in einer Gruppe, dem sogenannten Clan erlebt. Das ist intensiv. Ebenso wie das draußen sein, wo ich auf mich selbst zurückgeworfen bin und kein sicheres Dach über’m Kopf habe. Wenn man den Elementen ausgesetzt ist, gibt es Streit und Frust und gleichzeitig riesige Freude und Erfolgserlebnisse.
Wie wichtig sind Grenzerfahrungen bei einem Wildnis-Camp?
Mit Grenzerfahrungen wachsen wir. In dem Moment, wo ich Grenzen spüre, wo ich mit etwas Neuem konfrontiert werde und das positiv überwinde, kann ich wachsen und meine Komfortzone wird größer. Wenn alles bleibt wie immer, bleibe ich auch in meinem Concon und kann nicht wachsen. Das Entscheidende ist: Wie hoch sind die Grenzen? Ich muss mich nicht unbedingt von einer 100 Meter Wand abseilen. Es reicht vielleicht schon, ein Feuer zu machen. Oder mit den Lebensmitteln, die man zur Verfügung hat, etwas zu kochen. Oder anhand von einer Karte eine Kanu-Route für den kommenden Tag festzulegen. 🙂
Wo liegen die Grenzen?
Beim Wetter. Das ist das Tolle. Die Natur zeigt dir die Grenzen auf. Als LeiterIn musst du dir gar nichts einfallen lassen. Grenzen kommen sowieso. Dann schüttet es mal den ganzen Tag und du hast keine Möglichkeit ins Hotel zu gehen. Das ist die Herausforderung und anders als in der klassischen Erlebnispädagogik, in der wir künstliche Settings finden: In einem Hochseilgarten weiß ich, dem muss ich mich jetzt stellen. Aber am Abend bin ich wieder im Hotel oder zuhause. Auch kann ich jederzeit sagen: Ich mache das nicht. Bei der Wildnispädagogik ist das nicht so. Wenn ich da in Schweden auf einer Seenplatte unterwegs bin und ein Gewitter aufzieht, muss ich mir überlegen, wie ich damit umgehe. Da kommt man an körperliche, aber auch mentale Grenzen. Denn es gibt keine Möglichkeiten auszuweichen. In solchen Situationen braucht es LeiterInnen, die die Risiken im Griff haben und weitestgehend minimieren, sodass aus einer Gefahrenzone keine Panik entsteht.
Welche Kompetenzen brauchen LeiterInnen, um mit solchen Grenzen umzugehen?
Das ist schwierig, denn Grenzen sind für jeden unterschiedlich. Als LeiterIn hat man das nie 100 Prozent im Griff. Wichtig sind Vorbereitungen in und mit der Gruppe. So kann man sich zum Beispiel in ähnliche Situationen begeben, um zu schauen, wie die Leute sind. Oder man schläft erstmal eine Nacht draußen, bevor man sich für eine Woche in die Wildnis nach Schweden begibt. Werden solche Vorbereitungen nicht getroffen, muss man damit rechnen, dass man die Grenzen der einzelnen nicht kennt und eventuell nicht weiß, wie man damit umgehen soll, wenn jemand über seine Grenzen hinaus geht. Als LeiterIn muss ich immer für Sicherheit sorgen. Physisch und emotional. Das Risiko muss so minimiert werden, dass es nie gefährlich wird.
Was sind aus deiner Sicht die Unterschiede in der Arbeit mit Erwachsenen zu Jugendlichen?
Erwachsene wissen meist eher, worauf sie sich einlassen und gehen mit einer anderen Intention in Camps. Die kommen mit einem Plan, haben riesige Rucksäcke dabei, auch wenn sie nur die Hälfte brauchen, und sind für jede Eventualität gewappnet. Jugendliche sind viel intuitiver, spielerischer und nicht so verkopft. Wenn es übermorgen regnen sollte, interessiert Jugendliche das nicht. Aber im Vergleich zu Erwachsenen gehen sie viel entspannter mit den Konsequenzen um. Auch Risiken können Jugendliche nicht so gut abschätzen. Die haben das totale Vertrauen in die Leitung und gehen davon aus, dass du dich um alles kümmern wirst. Das schlimmste wird schon nicht passieren. Dann kommen sie in ihren All-Star-Schuhen zur Bergtour und vielleicht haben sie eine Jacke dabei. Aber das Jugendalter fordert das. Sie wollen Grenzerfahrungen machen und loten das aus. Auch in Hinblick auf die Leitung. Wenn auf dem Infozettel steht, das sie Bergschuhe brauchen, ignorieren sie es. Das Tolle ist: Du musst es nicht sanktionieren, sie bekommen es zu spüren. Durch die Natur. Da kann man sich als Leiter auch mal zurücklehnen und schauen, wie weit sie mit ihrem Material kommen.
Beispiel?
In Schweden hatte einer mal die glorreiche Idee, in der Kanutonne im Baum zu schlafen. Das hat er echt gemacht. Zwar war seine Nacht scheiße, aber er musste es probieren. 🙂
Worauf sollten LeiterInnen in Camps mit Kindern und Jugendlichen achten?
Du brauchst zwar Materialien, aber die Improvisation ist viel wichtiger. Man sollte die Dinge laufen lassen, der Natur und dem normalen Tagesablauf das Zepter überlassen und nicht zu viel vorgeben. Wir nennen das „Coyote-Teaching“. In der Form versucht man nicht alles zu erklären, sondern stellt Fragen, regt zum Nachdenken an, gibt Rätsel auf. Der Coyote ist in der indianischen Mythologie der Trickser, er stichelt und stellt Fragen, wie bei uns der Reinecke Fuchs. Diese Haltung sollte man als Leiter*in mitbringen. Ohne erhobenen Zeigefinger steuern und die Leute selbst drauf kommen lassen. „Da habt ihr Plane und Seile, probiert mal aus.“ Und wenn es nicht funktioniert, kann man Fragen stellen. Im Vorfeld ist natürlich die Vorbereitung ganz wichtig: Ist genügend Material und Budget da? Lebensmittel, Exit-Strategien, wenn etwas nicht funktioniert, kenn ich die Teilnehmer mit ihren Allergien etc., sind Regeln klar definiert? Einen gewissen Sicherheitsrahmen muss ich abstecken. So ein Camp ist eh schon herausfordernd.
Was hältst du von einem Format, in dem Wildnis-Erfahrung, wie Feuer machen und draußen schlafen, mit pädagogischen Aufgaben zur Auseinandersetzung der eigenen Ängste verbunden werden? Stichwort Heldenreisen oder Schwellengang
Finde ich sehr wertvoll und funktioniert total gut. Ein Schwellengang ist ja Natur-Prozess begleitend. Das ist sehr interessant und harmoniert gut miteinander, weil die Werte zwar gleich, aber die Intentionen unterschiedlich sind. Ich muss nur wissen, welches Ziel ich verfolge. In einem Jugendcamp wäre das Ziel zum Beispiel, das Erwachsenwerden näher zu bringen. Das Auseinandersetzen mit solchen Themen und gleichzeitig Wildnis-Erfahrung zu machen, finde ich sehr wertvoll. Da wird viel Verantwortung übernommen. Einen Walk-away, bei dem ich mich mit einem Thema auseinandersetze und dann für eine gewisse Zeit alleine bin, würde ich bei Jugendlichen aber nicht mit Wildnispädagogik kombinieren. Das wäre zu viel.
Was kann LeiterInnen und TeilnehmerInnen in solchen Kombinations-Camps erwarten?
Es kann sehr tief gehen, darüber muss ich mir als LeiterIn einfach bewusst sein. Dass es über die Erfahrungen hinausgeht, die ich sonst mit Jugendlichen mache. Und das muss ich gut managen können. Hilfreich ist auch, einen externen Backup mitzunehmen, wie eine psychologische Betreuung. Gerade wenn es Natur-Prozess begleitend ist sollten Jugendliche nicht von 0 auf 100 in eine Situation geworfen werden, sondern sich langsam an sie gewöhnen können. Zeit alleine im Freien zu verbringen, seine Themen im Kreis mit anderen spiegeln zu lassen – das braucht Zeit. Wenn ich in Schweden bin und auf einmal alleine schlafen soll, ohne dass ich das je gemacht habe, ist das viel. Das kann man lösen, indem Jugendliche vorher jeden Tag Übungen zum Alleinsein machen. Außerdem muss ich ein Vertrauen aufbauen, dass innerhalb der Gruppe alles gesagt werden kann, ohne dass etwas nach Außen dringt. Auch hier muss ich wieder einen Sicherheitsrahmen geben, den Jugendliche jederzeit sehen und nutzen können, wenn sie etwas nicht aushalten.
Ist es nicht automatisch überfordernd, wenn ich mich sowohl mit meinen Ängsten auseinandersetze als auch noch in der Wildnis unterwegs bin und neuen Herausforderungen begegne?
Du meinst, das ist dann nochmal eins drauf?
Ja. Wie kann man als LeiterIn sicher sein, dass man nicht etwas anrührt oder aufbricht, mit dem sich Jugendliche hinterher alleine fühlen?
Ich glaube wichtig ist, dass man die Leute vorher schon kennt und auch im Anschluss einen gemeinsamen Weg geht. Nach einem Camp schreibe ich den Leuten mal: Wie geht es dir? Und auch, dass ich verfügbar bin für Gespräche. Vor- und Nachbereitung sind sehr wichtig. Es braucht eine Integration im Anschluss an solche Reisen. Und Zeit, um das Erfahrene aufzufangen und sacken zu lassen.
Kann man pädagogische Konzepte und Übungen mit Erwachsenen auf Jugendliche übertragen?
Ja. Oft genug gemacht und miterlebt. Ich glaube, mit Jugendlichen funktionieren manche Übungen sogar besser. Man darf einfach nicht den Anspruch haben, ihnen alles erklären und die Ergebnisse vergleichen zu wollen. Wenn wir eine Spiegel-Runde im Kreis machen oder Jugendliche von Schwellengang zurückkommen, werden sie natürlich andere Erfahrungen teilen als Erwachsene. Besonders wenn jemand noch nie sowas gemacht hat. Aber es funktioniert ja trotzdem. Eine Sitzplatz-Übung, in der man draußen mal drei Stunden sitzt und nur zuhört, funktioniert mit Erwachsenen genau gleich wie mit Jugendlichen.
Wenn man an die eigenen Ängste geht, gibt es die Gefahr, Jugendliche zu sehr damit zu konfrontieren?
Ich denke nicht, dass es für Jugendliche riskanter ist als für Erwachsene, sich mit den eigenen Themen zu beschäftigen. Das Interessante ist: Die Themen sind ja da. Bei Jugendlichen wie bei Erwachsenen. Doch in dem Moment, wo ich dies als Gruppe und pädagogischer Leiter begleite, sind sie nicht mehr allein. Davor sind sie alleine mit dem Thema. Auch wenn ich draußen eine gewisse Zeit allein verbracht habe: Davor und danach bin ich in der Gruppe und habe Menschen, mit denen ich darüber reden kann. Und jede*r entscheidet ja auch selbst, was er/sie erzählen, sich anhören möchte, was er/sie mitnehmen will. In solchen Rahmen können Dinge angesprochen werden, die sonst totgeschwiegen werden. Wenn ich als Jugendliche*r die Möglichkeit habe, in solchen Situationen offen reden zu können, tue ich mich auch als Erwachsener leichter.